Ein Jahr Krieg: Aus der Kornkammer der Ukraine nach Norddeutschland: Eine Flucht aus dem Kriegsgebiet zur Tochter

Ewgenia Klaschik kam 2006 aus der Ukraine nach Deutschland, um ihre Deutschkenntnisse zu verbessern und das Land kennenzulernen. Sie blieb bis heute – und holte im Frühjahr 2022 ihre Eltern zu sich. Gegen deren Willen. Aber die Ukraine war zu gefährlich geworden.

Mit 19 Jahren entschloss sich Ewgenia Klaschik, das Land, in dem sie geboren und aufgewachsen war, zu verlassen. Sie hatte mit ihrem Lehramtsstudium in Deutsch, Englisch und Literatur begonnen und beschlossen, dass ihre Sprachkenntnisse mehr Praxis vertragen könnten. Zudem wollte sie Land, Leute und Kultur ihres Hauptfachs Deutsch kennenlernen. „Das wollten wir damals alle“, erinnert sie sich zurück. „Ich habe mich dann entschieden, als Au-Pair-Mädchen für ein halbes Jahr nach Deutschland zu kommen.“ 

Die heute 35-Jährige kam 2006 in eine Familie in Otterndorf in der Nähe von Cuxhaven. Dort betreute sie ein Mädchen und dessen anderthalbjährige Zwillingsschwestern, nahezu ein Vollzeitjob, der ihr aber Spaß machte. Das Ziel, ihre Fähigkeiten in der deutschen Sprache zu verbessern, konnte sie mit der Kleinkindertruppe allerdings nicht erreichen. Nach drei Monaten bekamen alle drei Zöglinge gleichzeitig einen Kita-Platz – und Ewgenia eine neue Familie, die ihr die Eltern vermittelt hatten. Mit ihren neuen Arbeitgebern zog Ewgenia nach Buxtehude. „Dort hatte ich ein dreijähriges Mädchen und einen Hund, mit denen ich den ganzen Tag unterwegs war, das war eine tolle Zeit! Da war mehr Action.“ 

Inzwischen hatte Ewgenia festgestellt, dass ihr Deutschland ganz gut gefiel. Nach dem Ende ihrer Au-Pair-Zeit bewarb sie sich an der Uni Hamburg, erhielt einen Studienplatz, fand anschließend eine Arbeit, die sie liebt und blieb bis heute in Norddeutschland. Das ist die kurze Vorgeschichte einer Tochter, die auszog, sich integriert hat und hier gelernt hat, dass sie deutsche Freunde besser nur besucht, wenn sie sich vorher mit ihnen verabredet hat. Nun folgt die Geschichte ihrer Eltern, die ihre Heimat niemals verlassen wollten, aber in der Ukraine nicht bleiben konnten.

Der 24. Februar 2022 änderte alles

Für Oleksandr, 65, und Olena, 62, war es unvorstellbar, ihre Wohnung in der Stadt Kropywnyzky, mit etwa 230.000 Einwohnern Hauptstadt der Oblast Kirowograd im geographischen Zentrum der Ukraine, aufzugeben. Die ganze Familie lebt in der Nähe und so viele Freunde. Dort hatten Ewgenias Eltern auch ihre Arbeit, Vater Oleksandr, der ausgebildete Sportlehrer, als Beamter in der Abteilung für Jugend und Sport, Mutter Olena als Erzieherin, jenem Beruf, dem sie am liebsten auch jetzt noch nachgehen würde. Die Region gehört zu den Kornkammern, flaches Land in der Steppe voller Weizen und Sonnenblumen. 

In Kropywnyzkyj liegt aber auch die staatliche zivile Flugakademie der Ukraine mit einem größeren nationalen Flughafen. Könnte das ein Angriffsziel sein? Die Bombeneinschläge kamen näher, Ewgenia bestand darauf, dass ihre Eltern zu ihr nach Deutschland kommen sollten. Sie gaben schließlich nach, denn mehrmals am Tag und in der Nacht bei jedem Luftalarm aus dem fünften Stock mit allen Nachbarn „in einen unzumutbaren Keller zu laufen“, war auch keine Lösung. „Der entscheidende Moment war wohl der Beschuss des Atomkraftwerks in Saporischschja, Anfang März, das dann wohl auch brannte“, glaubt Ewgenia. „Man wusste ja nicht, was jetzt noch passiert.“

Die Flucht

Im März 2022 waren die Eltern eher überredet als überzeugt und Olena erzählt, von Ewgenia übersetzt, von der Flucht. „Diese Reise war schrecklich und sehr beunruhigend, wir wussten nicht, was vor uns lag, wir ließen alles zu Hause, haben unsere Sachen innerhalb von drei Stunden gepackt. Wir waren Tag und Nacht unterwegs, aber wir bewegten uns sehr langsam, in kleinen Schritten, weil eine lange Schlange von Autos vor uns war. Besonders beängstigend war es nachts, da unsere Kolonne wie eine beleuchtete Zielscheibe für die feindlichen Flugzeuge war.“

Fast vier Tage dauerte die Fahrt bis zur polnischen Grenze, in Krakau holte Ewgenia die Eltern ab. „Obwohl wir wussten, dass wir von unserer Tochter und unserem Schwiegersohn empfangen werden, standen wir immer noch neben uns“, berichtet die Mutter. „Ich konnte nicht mehr laufen, weil sich in meinem Bein vom unbequemen Sitzen eine Thrombose gebildet hatte.“ Nach einem Tag im Krankenhaus ging alles der Reihe nach: Registrierung, Anmeldung, Aufenthaltserlaubnis, soziale Hilfe – von der organisierten Ankunft waren die Eltern sehr berührt. „Aber es war gleichzeitig auch traurig, wir waren nicht zu Hause, die ganze Zeit hörten und sahen wir die Nachrichten auf Youtube, das war schwer zu ertragen“, verrät die Mutter.

Die Ankunft

Rund neun Monate haben Ewgenias Eltern in einem kleinen Arbeits- bzw. Gästezimmer ihrer Tochter und deren Mannes gelebt. Während das junge Ehepaar dem jeweiligen Beruf nachging, suchten sich Oleksandr und Olena eigene Beschäftigungen: Lesen, die aktuellen ukrainischen Nachrichten verfolgen, Spaziergänge, die sich von dem sicheren Garten des Paares allmählich in die Umgebung ausdehnten. Gemeinsame Mahlzeiten sorgten für das Familiengefühl, aber es zeichnete sich ab, dass an eine Rückkehr in die Ukraine vorläufig nicht zu denken war, auch wenn die Sehnsucht der Eltern groß war.

Olena hat in Deutschland Dinge bemerkt, die sie aus ihrer Heimat nicht kennt. Positive wie negative.

Positiv:

  • „Es ist mir damals aufgefallen, dass überall ukrainische Flaggen hingen und so viele Menschen bereit waren zu helfen, Geld zu spenden, ihre Zeit und Arbeit zu spenden. Es fanden gemeinsame Proteste statt, an denen auch die Deutschen teilnahmen, viele freiwillige Helfer. Es waren nicht nur junge Menschen, sondern auch Rentner, die die erste schwierige Flüchtlingswelle auf sich nahmen, der Zusammenhalt aller, um den Krieg zu beenden.
  • Und vor allem fiel mir auf, welche Bedeutung in Deutschland der Staatssprache beigemessen wird. Und das ist Deutsch und nicht Englisch, nicht Russisch usw. Es gibt viele Einwanderer in Deutschland, und alle sind tolerant ihnen gegenüber. Nur in meinem Sprachkurs waren z.B. Menschen aus Afghanistan, Syrien, Tschetschenien, Simbabwe, Singapur, Nigeria, Türkei. Sie alle suchen ein besseres Leben in Deutschland und Schutz, aber alle verständigen sich auf Deutsch. Deutsch hat Priorität, ohne Sprachkenntnisse werden sie nicht eingestellt. Und ukrainische Flüchtlinge lernen die Sprache jetzt auch gerne und besuchen Integrationskurse. Und der Zugang dazu wurde vom Staat und freiwilligen Lehrern zur Verfügung gestellt.
  • Auch Bildung hat mich beeindruckt, alle unsere Kinder müssen zur Schule gehen und die Sprache lernen! Dies ist ein großes Plus für den Staat. Der Staat hat versucht, alle Kinder in den Schulen unterzubringen und die Betreuung von Mutter und Kind im Allgemeinen ist großartig.
  • Mir ist hier auch aufgefallen, dass wir alle (=Flüchtlinge) sofort registriert wurden, Aufenthaltsgenehmigungen ausgestellt bekommen haben und unsere Fingerabdrücke wurden registriert. Das heißt, wir sind im System, der Staat weiß Bescheid, wo wir sind, und das bedeutet auch Sicherheit.

Negativ:

  • Viele pro-russische Menschen in Deutschland, die immer noch versuchen, die Ideen der russischen Welt hier zu fördern.
  • Bürokratie, hohe Fahrtkosten, sehr lange Wartezeiten für die Arzttermine
Ewgenia und ihre Eltern sammeln Spenden an der Alster

Ewgenia und ihre Eltern sammeln mit ukrainischen Spezialitäten Spenden für geflüchtete Landsleute an der Hamburger Alster

© Privat

Die Community, 2014 entstanden, wird 2022 reaktiviert

Es ist ja nicht so, als wäre der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine erst am 24. Februar 2022 entstanden. Er schwelt seit Ende 2013 mit dem Kampf um die Krim und dem Beginn der Maidan-Revolution. 2014 geht es weiter, „am 12. April besetzt ein aus der Krim eingesickertes Kommando unter Führung von Igor Girkin, einem Reserveoberst des russischen Geheimdienstes, die Stadt Slowjansk im Donbass. Es ist der Beginn des Krieges in der Ostukraine“, berichtet die NZZ in einer Chronologie im April 2022.

Seit 2014 ist Ewgenia Mitglied der Facebook-Gruppe „Ukrainer in Hamburg“, sie ist sich der Gefahr für ihr Land, über das sie bei jedem Besuch immer noch sagt „ich fahre nach Hause“, bewusst. Mit dem Kriegsbeginn Ende Februar 2022 findet eine Reaktivierung der Gruppe statt – die sofort Hilfsaktionen für ihre Landsleute startet. Zum Beispiel mit dem Verkauf lokaler Speisen und dem verbundenen Sammeln von Spenden. 

Der Umzug und das Ankommen

Im Laufe des Jahres 2022 wird der Familie klar, dass vorläufig keine Rückkehr in die Ukraine möglich sein wird. Und dass das kleine Arbeitszimmer, in dem die Eltern bei Ewgenia unterkommen – ohne ein vernünftiges Bett oder Stauraum für Kleidung etc. – keine dauerhafte Lösung sein kann. Schweren Herzens entschließen sich Oleksandr und Olena Ende 2022, eine eigene kleine Wohnung in der Nähe ihrer Tochter zu mieten. Diese Art von Endgültigkeit ist ihnen eigentlich nicht recht, sie wollen noch immer nach Hause. 

Inzwischen haben sich die Eltern ganz gut eingelebt. Doch die Sehnsucht nach der Heimat bleibt.

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