Schon seit ihrer Kindheit braucht Sonja mehr Ruhe und Zeit für sich als andere Menschen. Die Familie ihres Mannes dagegen scheint sich als gesprächige Gruppe am wohlsten zu fühlen. Wie kann sie klar machen, dass sie mehr Raum braucht?
Liebe Frau Peirano,
ich bin eigentlich sehr zufrieden mit meinem Leben. Guter Job, verheiratet mit einem tollen Mann und wir haben eine dreijährige Tochter.
Allerdings gibt es immer mal wieder Differenzen mit der Familie meines Mannes, insbesondere seiner Mutter und seiner Schwester. Die beiden reden einfach unglaublich viel, es gibt nie eine Gesprächspause. Eigentlich würde ich fast das Wort „schnattern“ benutzen, weil die beiden sich anscheinend nicht wirklich selbst zuhören, sondern den ganzen Tag alles aussprechen, was ihnen durch den Kopf geht. Auch so Banalitäten, wie dass sie sich neue Obstmesser gekauft haben, was im Fernsehen läuft, was der Friseur gesagt hat usw. Aber genau so schnell kann das Thema dann von Banalitäten auf Probleme umschwenken, und dann wird ausgebreitet, wer im Bekanntenkreis krank ist (Krebs, Long Covid etc), welches Paar sich getrennt hat. Mich belastet das!
Ich selbst bin eher ruhig und ich brauche Ruhe und Konzentration. Mir ist schon vor Jahren aufgefallen, dass ich VIEL MEHR Ruhe und Zeit für mich brauche als alle anderen Menschen, die ich kenne. Ich lese viel, höre Podcasts und mag auch gerne mit meiner Tochter ganz in Ruhe etwas spielen, z.B. Puzzeln oder Rollenspiele. Ablenkung strengt mich schnell an, auch wenn andere Kinder zu Besuch sind. Aber bei anderen Kindern kann ich das noch einigermaßen aushalten, weil es meistens ja auch nur für ein paar Stunden ist.
Doch jetzt kommen wir zum Problem. Die Familie meines Mannes hat ein wunderschönes Ferienhaus auf Föhr, und eigentlich bin ich da wirklich gerne. Aber wenn wir dahin fahren wollen, kündigen sich die anderen auch an und dann ist es turbulent. Ich ertrage es einfach nicht, wenn den ganzen Tag geredet wird und ich keine ruhige Minute für mich habe.
Mein Mann kennt das nicht anders mit seiner Familie und er ist auch gesprächiger und geselliger als ich. Er hat nur begrenzt Verständnis dafür, dass es mich wirklich schmerzt, wenn ich keine Ruhe bekomme.
Haben Sie ein paar Tipps für mich?
Viele Grüße,
Sonja T.
Liebe Sonja T.,
jede Familie hat ihre eigene Kultur und ihre eigenen Gewohnheiten, und nicht immer passt das zu der eigenen Persönlichkeit und dem Umgang, den man in der eigenen Ursprungsfamilie gelernt hat.
Es hört sich so an, als wenn die Familie Ihres Mannes es angenehm und „gemütlich“ findet, so viel zu reden und sich über die erfreulichen und bedrohlichen Themen aus dem eigenen Alltag und Umfeld zu unterhalten. Und anscheinend sind zumindest die Mutter und Schwester nicht vertraut damit, Themen auf sich wirken zu lassen und langsam zu erspüren, was für einen „Nachhall“ diese haben. Also z.B. ob es für einen belastend ist, mehrere schwere Krankheiten im eigenen Umfeld abzuhandeln oder ob man auch mal eine Gesprächspause brauchen könnte nach den ganzen Informationen. Für Sie hingegen wird das dann anstrengend, weil Sie Informationen dicht an sich heranlassen und nicht einfach so an sich abgleiten lassen können.
Da unterscheiden sich die Menschen extrem. In unserer Gesellschaft sind viele Menschen es gewohnt, sehr viel zu reden und Gesprächspausen möglichst gar nicht erst aufkommen zu lassen. Vielleicht steckt die Annahme dahinter, dass „sich das so gehört“ und dass es höflich ist, ununterbrochen zu reden. Vielleicht ist für viele Menschen Stille – auch gemeinsames Schweigen – aber auch etwas Ungewohntes oder sogar Beängstigendes. Auch gemeinsames Schweigen über einen längeren Zeitraum muss geübt werden, genau so wie man üben muss, sich alleine wohl zu fühlen. Wer das nie ausprobiert und verinnerlicht hat, fürchtet sich oft davor und lässt Stille gar nicht erst aufkommen.
Dennoch kann ich sehr gut verstehen, dass Sie es anstrengend finden und auch darunter leiden, wenn Sie nicht in Ihrem eigenen Auftankmodus sein dürfen: nämlich in dem der Ruhe und der Konzentration.
Menschen unterscheiden sich in der Art, wie sie Kraft tanken. Extravertierte Menschen wie die Familie Ihres Mannes laden ihre Batterien auf, wenn sie in Gesellschaft sind und sich miteinander beschäftigen. Sie hingegen als introvertierter Mensch fühlen sich nach einiger Zeit kraftlos und ausgesogen, wenn Sie sich nicht zurück ziehen und auf sich selbst oder ihre Tätigkeit konzentrieren können.
Was können Sie tun? Ich bin ja immer eine große Freundin ehrlicher Worte, und am Besten fährt man mit einer Mischung aus Ehrlichkeit und Freundlichkeit.
Ich gehe davon aus, dass die Familie Ihres Mannes, die ja nicht so gerne in die Tiefe geht und reflektiert, gar nicht weiß, dass Sie eine ganz anderes Persönlichkeit haben und deshalb auch ganz andere Dinge brauchen. Wahrscheinlich können sie auch Ihre Mimik und Ihr Verhalten nicht richtig deuten, weil sie selbst so anders sind.
Deshalb würde ich Ihnen empfehlen, einmal deutlich zu sagen, wie Sie sind und was Sie brauchen. Sie könnten das damit verbinden, wertschätzend deren Umgangsformen zu benennen. Zum Beispiel: „Ich finde das immer wieder erstaunlich, wie viel ihr euch zu erzählen habt und wie gerne ihr den ganzen Tag redet! Das ist bestimmt sehr verbindet und gemütlich. Aber ich bin ein ganz anderer Typ. Ich kann gar nicht so viel reden, sondern ich brauche einfach immer wieder ganz viel Ruhe und Zeit für mich. Das war schon als Kind so und ich vermute, dass sich das auch nicht verändern wird.
Ich wollte das nur sagen, damit ihr euch nicht wundert, wenn ich mich immer wieder zurück ziehe oder mal ausklinke. Das ist nicht persönlich gemeint, sondern ich brauche das einfach, damit ich nicht überfordert werde.“
Wenn Sie das einmal (oder auch zweimal, dreimal, viermal) gesagt haben, dann haben Sie einen Anker gesetzt und können immer wieder darauf zurück kommen. „Ich räume jetzt noch den Tisch ab und dann merke ich, dass ich erst mal eine Pause brauche. Ich lege mich mal eine Weile mit der Kleinen hin/ gehe an den Strand/ möchte noch etwas lesen.“ Und versuchen Sie, bei sich zu bleiben und sich nicht darüber den Kopf zu zerbrechen, was die anderen über Sie denken!
Am Besten denken Sie auch ganz realistisch bei Ihrer Besuchsplanung daran, wie sehr es Sie strapaziert, wenn Sie keine Ruhe bekommen. Erwarten Sie nicht, dass diesmal „schon irgendwie“ gehen wird oder dass Sie sich dieses Mal besser in den „Griff bekommen.“ Sondern gehen Sie davon aus, dass es Sie anstrengt und dass die Familie Ihres Mannes sich nicht ändert wird (warum sollten sie auch – sie scheinen damit ja zufrieden zu sein.)
Dann fragen Sie sich, wie viele Stunden bzw. Tage unter einem Dach mit der Schwiegerfamilie für Sie in Ordnung sind. Und wenn die Antwort lautet: „drei Stunden“, dann würde ich Ihnen empfehlen, sich mit Ihrem Mann zusammen ein Zimmer außerhalb als Rückzugsort zu mieten und die Schwiegerfamilie dann zu besuchen oder immer mal wieder am Strand oder im Cafè zu treffen. Besprechen Sie mit Ihrem Mann, wie er das handhaben möchte. Es kann ja sein, dass er gelegentlich auch mal länger bei seiner Familie bleiben möchte. Dann könnten Sie sich in Ihrem Zimmer zurück ziehen. Wäre das eine Option?
Das heißt: Akzeptieren Sie, wie Sie sind und versuchen Sie nicht Dinge auszuhalten, die für Sie qualvoll sind. Persönlichkeitsmerkmale sind stabil und verändern sich ab einem gewissen Alter nicht mehr. Ihre Schwiegerfamilie wird sich nicht ändern, und Sie brauchen es auch nicht!
Und dann schauen Sie ganz ehrlich, wo der gemeinsame Nenner liegt.
Ich wünsche Ihnen entspannteren Kontakt und mehr Mut, Ihre Grenzen einzuhalten. Das entspannt ungemein und ist nebenbei gesund.
Herzliche Grüße,
Julia Peirano
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